Es gibt Zeiten, da steht die Erde still. Doch in Wahrheit dreht sie sich einfach weiter.
Am 18.8.2006 weckte mich meine Mama mitten in der Nacht und fragte drängend: „Lisa, schnell komm. Ist das Tom?“ Ich stolpere ins Schlafzimmer meiner Eltern, steige dabei auf meinen Leuchtmond, der seit Jahren auf meiner Decke hängt und in dieser Nacht heruntergefallen ist. Ich sehe aus dem Fenster. Du liegst da mit einem friedlichen Lächeln. Das Gesicht in Richtung unseres Wohnblocks mit geschlossenen Augen. Du liegst teilweise im Blumenbeet. Du siehst so friedlich aus. Eine Nachbarin schreit, als sie dich auf ihrem Weg zur Arbeit sieht. Ich gehe in mein Zimmer und schlafe.
13 Jahr lang habe ich unter Schuldgefühlen gelitten. Ich habe mich so dafür geschämt, dass ich mit keinem darüber reden konnte. Genau zu seinem 13. Todestag habe ich meinen Trauerprozess mit dem Projekt „Und dann war da dieser Mond“ abgeschlossen. Nie hätte ich zu hoffen gewagt, dass aus etwas so Schrecklichem, etwas so Schönes entstehen kann.
Er hatte sein Zimmer direkt über meinem. Deshalb war der Leuchtmond für mich sein Zeichen des Abschieds.
1 | Warum bleibt die Welt nicht stehen?

Für mich blieb die Welt stehen, doch sie drehte sich einfach weiter. Und ich lebte meinen Alltag, ungläubig, dass dies noch möglich ist.
2 | Gefühle

In meinem Umfeld ging jeder mit dem Thema Suizid anders um. Die einen waren wütend auf ihn und nannten ihn einen Egoisten. Die anderen suchten Schuldige, andere waren einfach nur verzweifelt, wieder andere wollten nicht darüber reden. Ich hüllte mich in Stillschweigen und verdrängte den schmerzlichen Verlust und all die Gefühle, die damit einhergehen zwölf Jahre lang. Ich konnte ihn nie loslassen, bat ihn immer wieder um Verzeihung und wollte die Zeit zurück drehen.
3 | Gedanken

Mindestens einmal im Jahr gab es eine Woche, in der ich mich täglich heimlich in den Schlaf weinte und von meinen Schuldgefühlen überfordert war. Oft redete ich in Gedanken mit ihm und fühlte mich dann für kurze Zeit friedlich.
2018 – zwölf Jahre nach seinem Tod – weinte ich mich fast drei Monate täglich in den Schlaf, sogar tagsüber begann ich einfach zu weinen und versuchte es zu verstecken. Bis ich endlich erkannte, dass ich dieses Thema nicht für immer verdrängen kann. Ich vertraute mich meinem Freund unter Tränen an, schämte mich, weil ich so von meiner Schuld überzeugt war. Doch er war verständnisvoll und so begann ich mit meinem Heilungsprozess.
4 | Abschied

Nach einem sehr intensiven Gespräch besuchte ich Tom bei seiner letzten Ruhestätte. Ich verabschiedete mich in Gedanken bei ihm, bat noch einmal um Verzeihung, dass ich ihm nicht helfen konnte und plötzlich ertönte eine wunderschöne Melodie. Ein Windspiel hängte an seinem Grab, welches im richtigen Moment zu spielen begann und mir Hoffnung gab, innerlichen Frieden finden zu können.
5 | Selbstvergebung

Nach vielen Gesprächen sprach ich es endlich aus, was ich die ganze Zeit unterdrückt hatte. Ich verspürte einen tiefen Hass gegen mich selbst. Ich war so von meiner Schuld überzeugt, dass ich nicht anders konnte, als mich zu hassen. Nach vielen Gesprächen und noch mehr Rückschlägen konnte ich mir endlich selbst vergeben. Dieses Gefühl, sich endlich zu verzeihen ist befreiend. Mir fiel eine große Last von meinen Schultern – oder besser gesagt von meinem Herzen.
6 | Immer in meinem Herzen

Mit diesem Projekt habe ich nach einem Jahr der aktiven Verarbeitung den Selbstmord meines besten Freundes abgeschlossen.
Ich werde immer an ihn denken, ihn immer vermissen, immer darüber traurig sein, mich immer fragen, ob er es nicht doch schaffen hätte können, ihn immer in meinem Herzen haben. Durch ihn bin ich durch die Hölle gegangen, doch ich bin auch gewachsen und habe aus etwas so Traurigem etwas Schönes gemacht. Nie hätte ich mir gedacht, dass das einmal möglich sein wird. Wenn ich jetzt an Tom denke, spüre ich Frieden. Für ihn und für mich.
Wenn du Hilfe brauchst
Solltest du selbst Suizidgedanken haben, wende dich an deine Familie, oder suche dir professionelle Hilfe. Es ist keine Schande über seine Gefühle zu sprechen. Es ist keine Schande, keinen Ausweg mehr zu sehen. Es ist richtig, sich zu öffnen. Und wenn die erste Person, mit der du sprichst, nicht die richtige ist, such dir eine andere. Ich versichere dir, es gibt einen Menschen, der dir zuhört.
Alles Liebe, Lisa
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